[Mi, 12.11.2025 – Bewegung, Digitale Souveränität]

Ich zog im Fitnessstudio dann doch nicht das Herthatrikot an. Es roch nicht mehr gut.

Fittix Fühlsbüttel. Ich lief eine halbe Stunde lang zu Fuß an einer dunklen Hauptstraße entlang. Die Hauptstraße ist etwas heller beleuchtet, als die Nebenstraßen, aber es ist immer noch düster. Halbe Stunde hin und halbe Stunde zurück. Eine Stunde beim Fitness. Dann habe ich ganze zwei Stunden Bewegung absolviert. Eigentlich gut für mich, aber der zeitliche Aufwand scheint mir etwas übertrieben. Der Abend ist danach nämlich vorbei. Das muss ich anders lösen. Vor allem, wenn ich irgendwann wieder soziale Kontakte pflege. Andererseits kann ich auf diese Weise endlich mein Podcast-Backlog abbauen.

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Ein Premium Abo von LanguageTool gekauft. Ich nutze es schon seit Längerem für Rechtschreib- und Grammatikkontrolle. Neuerdings tendierte ich allerdings eher zu Quillbot, weil mir die Benutzeroberfläche mehr zusagte. Heute sah ich, dass LanguageTool aus Potsdam kommt, dann bämm, kaufte ich mir ein Abo. Ich bin voll für europäische digitale Souveränität. Mir ist nicht verständlich, warum das in den großen Medien so wenig ein Thema ist. Man sieht neuerdings ja, wie erpressbar wir europäische Staaten sind, wie abhängig wir von den amerikanischen Plattformen geworden sind. Man las vor Monaten darüber, wie wichtig europäische digitale Souveränität geworden ist, aber in der Praxis spüre ich wenig davon.

Vor zwei Tagen kaufte Rumble einen der wenigen deutschen Cloudanbieter. Rumble ist eine Trump-nahe Videoplattform, hinter der Geldgeber wie Thiel und JD Vance stecken. Die Strategie ist ja so offensichtlich. Alle wichtigen Plattformen übernehmen, auf denen sich entweder Inhalte verbreiten lassen oder um Monopole und Abhängigkeiten zu schaffen. Es wundert mich, für wie wenig Entsetzen das im öffentlichen deutschen und europäischen Diskurs sorgt. Die Medien berichten darüber nüchtern, aber es geht in den vielen Koalitionsreibereien unter.

Dass ich jetzt monatlich 4,99€ für Textkorrektur nach Potsdam überweise – tja. Wie beende ich jetzt diesen Satz?

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[Di, 11.11.2025 – Adiposi, Licht, Polizeihaftigkeit, Muckis]

Heute früh sagte es mir die Waage: Ab sofort habe ich keine Adipositas mehr. Ab jetzt bin ich nur noch übergewichtig. Ich liebe es, diese Linie anzuschauen, die nach unten führt. Ich liebte auch immer fallende Aktienkurse. Früher zumindest. Jetzt bin ich erwachsen. Sieht aber trotzdem gut aus.

Hamburg ist übrigens gar nicht so dunkel, wie letzte Woche angedichtet. Dieser Tage hängt eine dichte Wolkendecke über der Stadt und das Licht fängt sich darin wieder. Das hellt alles auf. Indirektes Licht. Das lernt man schon als junger Mensch, wenn Frauen zu Besuch kamen: Du brauchst mehr indirektes Licht. Indirektes Licht macht das Haus schön.

Der Inder, mit dem ich mir die Firmenwohnung teile, will wissen, in welchem Stock sich mein Büro befindet, in welchem Flügel es liegt, ob es ein Einzelbüro ist und an wen ich reporte. Er versucht aus mir herauszukitzeln, ob er hierarchisch über mir steht, oder nicht. Wir werden nicht wirklich warm miteinander. Letzte Woche saßen wir eine Weile zusammen in der Küche. Ich hatte gerade einen Salat gegessen und er kochte sich ein Gurkenomelett. Die Konversation geriet ständig ins Stocken. Ich sagte etwas, er äußerte eine starke Meinung dazu, ich stimmte ihm zu, fügte jedoch ein „aber“ hinzu, worauf er mit einem „aber“ einen obendrauflegte, immer mit einem polizeihaften Absolutheitsanspruch. Und schon verlor ich die Lust auf das Gespräch. Das ging ein paar Mal so. Dass ich ein Einzelbüro habe, gefiel ihm nicht so.

Jetzt habe ich auch die Hanteln in die Wohnung gebracht. Dann kann ich abends Muckis machen. Sie wiegen 7,5 kg pro Stück. Eigentlich sind sie zu schwer für den Heimgebrauch, aber ich überschätze mich gerne. Ich bin wirklich froh, immer ein friedlicher Typ gewesen zu sein, ich hätte mich sonst sicherlich in jede Schlägerei geschmissen. Morgen gehe ich zu Fitx in Hamburg. Ich habe mein Herthatrikot dabei. Das werde ich morgen anziehen. Nicht, weil ich in eine Schlägerei geraten will. Auch nicht, weil ich mich überschätze. Ach doch, vielleicht überschätze ich mich.

[So, 9.11.2025 – Bewusster, Abschiede, Hörbuch]

Die Hündin freute sich wirklich sehr über meine Ankunft. Auch meine Frau freute sich, aber die Hündin kriegte sich vor Freude gar nicht mehr ein.

In Berlin zu sein, ist jetzt ein bisschen anders. Ich habe gerade das Bedürfnis, die Zeit bewusster zu nutzen. Ich hänge nicht so viel im Netz rum, rede mehr mit meiner Frau. Am Samstagabend kochten wir ein veganes Kohlgericht von dieser berühmten indischen Veganerin aus dem Netz. Gemeinsam zu kochen ist immer so schön. Wir öffnen uns ein paar Drinks, machen Musik an und reden über die Dinge, während wir ein aufwendiges Gericht zubereiten. Diesmal gerieten wir in einen Streit, der ziemlich schnell ziemlich hochkochte. Es dauerte eine Weile, bis wir einander verstanden und einander verziehen. Aber immerhin versöhnten wir uns diesmal bewusst und auch schnell. Würde ich noch in Berlin wohnen, dann hätten wir den Streit zwar beigelegt, ihn aber immer noch ein bisschen in das Wochenende hineinköcheln lassen, bis die Zeit irgendwann ihren Schatten über alles legt. Diesmal nicht. Diesmal versöhnten wir uns und sprachen uns aus. Wie früher, als wir noch ein junges Paar waren. Es tut uns vermutlich gut, nach so vielen Jahren etwas Abstand zu gewinnen.

Heute fuhr ich dann wieder nach Hamburg. Die Hündin hat jetzt verstanden, dass der große rote Koffer bedeutet, dass ich mich wieder für längere Zeit aus dem Staub mache. Sie weicht nicht von meiner Seite, will mir bis ins Treppenhaus folgen. Ich befehle ihr, zurück in die Wohnung zu gehen, sie versteht es nicht, schüttelt sich. Das rührt mich sehr. Aber ich bin momentan generell sehr rührselig. Ist gar nicht mein Ding.

Auf der Rückfahrt beschließe ich, nicht mehr „Die Zeitmaschine“ zu hören, da ich nach der Hälfte des Hörbuches das Gefühl habe, die Message verstanden zu haben, und dabei festgestellt habe, dass sie mich nicht besonders interessiert. Deswegen hörte ich Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Ein Buch, das ich zum Lesen furchtbar fand, dem ich jetzt als Hörbuch eine neue Chance geben will. Das werde ich auf meinen wöchentlichen Reisen sicherlich mit mehreren Büchern so händeln. Dummerweise fand ich das Hörbuch ähnlich furchtbar wie das Buch. Immer diese von hinten aufgezogenen Sätze. Hinzu kommt, dass es sich bei der Aufnahme um eine Low-Budget-Produktion handelt, mit einem Sprecher, der nicht sehr mitreißend spricht. Nach drei Stunden kam ich im Hörbuch dort an, wo ich auch beim Lesen schon gewesen war. Ich will das aber jetzt weiterhören, ich will wissen, was es mit diesem Text auf sich hat. Für die Fahrt nach Berlin am Freitag besorge ich mir aber eine bessere Hörbuchversion.

[Fr, 7.11.2025 – Marquéz, Wells, Mond]

Die zweitbeste Sache an Hamburg ist ja, dass hier keine ollen FC-Köpenick-Sticker kleben. Mit St.Pauli oder dem HSV kann ich gut leben.

Auf dem Hinweg letzten Sonntag wollte ich eigentlich das Hörbuch „100 Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez hören. Seit der letzten Schwedenreise habe ich nämlich das Hörbuchhören auf langen Autofahrten für mich entdeckt. Nach einer Stunde überforderten mich allerdings die vielen verschiedenen Figuren. Ich konnte all die Buendías, Arcadios und Amarantas nicht mehr auseinanderhalten. Die Restkonzentration, die ich für das Steuern eines Wagens brauche, belegt offenbar dieselben Gehirnareale wie literarische Figuren, wenn sie über meinen Gehörkanal eindringen. So meine Interpretation. Also stoppte ich das Tonband und hörte stattdessen einen Militärpodcast. Ich werde es wohl doch als Buch lesen müssen. Der Schinken steht schon seit ein paar Jahren in meinem Regal, aber ich zog immer andere Lektüre vor.

Die ganze Woche in Hamburg habe ich kaum gelesen. Ich habe auch kaum geschrieben. Nicht mal eine Seite pro Tag. Abends war ich immer müde. Mental müde. Vor dem Einschlafen las ich Murakamis „Kafka am Strand“. Nach einer Woche bin ich auf Seite 25 angelangt und ich habe keine Ahnung, was ich da gelesen habe.

Heute auf der Rückreise hörte ich H. G. Wells‘ „Zeitmaschine“. Klassiker der Science-Fiction. Ich dachte: Weniger Figuren. Das klappte tatsächlich.

Ich störe mich etwas am Duktus des Erzählers, wie er die zukünftige Gesellschaft (im Jahr 802.701 n. Chr.!) beschreibt und sie mit der heutigen Gesellschaft (London 1891) vergleicht. Wie er ständig über die „Verweiblichung“ der Gesellschaft redet, könnte er genauso gut Reden für Friedrich Merz schreiben. Das Unangenehme daran ist möglicherweise jedoch der Epoche zuzuschreiben, in der der Text entstanden ist. Wells hatte ungewöhnliche politische Ideen zur Zukunft der Menschheit, die auf den ersten Blick durchaus interessant klingen, aber er hing kurzzeitig auch sozialdarwinistischen Ideen nach. Ich habe mich noch nicht näher damit beschäftigt.

Gestern war Vollmond. Heute auf der Reise zurück nach Berlin begleitete mich der Mond die ganze Strecke lang. Er hing tief am nördlichen Himmel. Die Nacht war wolkenfrei. Er begleitete mich die ganzen drei Stunden lang. Immer links neben mir. Oft schaute ich hinüber zu ihm. In den meisten Sprachen hat der Mond einen weiblichen Artikel. Nicht auf Deutsch. Komisch eigentlich. Im Mondlicht wehen eigentlich ja immer die Kleider der enigmatischen Frauen. La Luna erscheint mir da wesentlich sinnvoller. Heute war er aber ein bisschen wie ein Beschützer. Ein nächtlicher Begleiter. Während wir durch die dunkle norddeutsche Tiefebene fuhren.

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5 Tage.

[Mi, 5.11.2025 – Meilensteine, Budni]

Ich habe mich schon lange nicht mehr so wenig bewegt wie hier. Ich laufe zwei Minuten von der Wohnung ins Büro. Und zwei Minuten vom Büro zurück in die Wohnung. Tagsüber sitze ich und abends sitze ich. Gestern hatte ich vom vielen Sitzen Nackenschmerzen. Deswegen machte ich einen Spaziergang zu Lidl, das ist nur ein paar Gehminuten entfernt, aber ich nahm einen großen Umweg durch das dunkle Hamburg und lief dabei mit gestrecktem Hals, so wie ich das in den Nackenübungsvideos gelernt habe. Es half tatsächlich ein bisschen.

Hamburg ist nach Sonnenuntergang echt dunkel. Aber das sagte ich bereits gestern. Die Straßenlampen sind vermutlich als Meilensteine gedacht und weniger als Beleuchtungsutensil. Jede Meile eine Laterne. Damit kann man gut Entfernungen messen.

Die Arbeitstage sind aber lang, deswegen stört es mich gar nicht. Ich will es nur erwähnen. Als ich heute das Büro verließ, ging ich vier Kilometer zu Budni. Immerhin beschwerte sich heute meine App nicht mehr, da ich die gestrichelte Linie von 6000 Schritten überschr– öhm, überschritt. Ich musste mir nur Socken und Unterhosen kaufen, aber vielleicht mache ich das jetzt jeden Abend. Spaziergang zu Budni. Das hat für mich etwas Nostalgisches. Budni gibt es in Berlin nicht. Jeden Abend einen Spaziergang zu Budni und die App beschwert sich nicht. Die Strecke ist schön, ein bisschen dunkel vielleicht, und ich kann dabei Podcasts hören. „Mehrere Fliegen auf einmal“, würde eine Redewendeschleuder sagen.

Bei Budni musste ich Unterhosen und Socken kaufen. Ich hatte lediglich drei Unterhosen und drei Paar Socken mit nach Hamburg genommen. Aber sechs T-Shirts und fünf Hemden. Eine seltsam inkonstistente Verteilung. Dabei weiß ich, wie routiniert ich sonst mein Gepäck plane. Ich zähle immer die Tage, während ich die Kleidungsstücke wie Scheiben in den Koffer slice. MoDiMiDoFrSaSo. Ging eigentlich nie schief. Liefert mir diese Anekdote eine Erkenntnis? Nein. Dient sie einer protokollarischen oder statistischen Auswertung? Nein. Ist sie lustig? Nein. Werde ich den Absatz löschen? Nein.

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VIOW

[Mo, 3.11.2025 – HH]

Jetzt also Part-time-Hamburger.

Ich kam gestern Abend in der Stadt an. Es war bereits dunkel. Als ich heute morgens in die Firma ging, war es gerade erst hell geworden und als ich die Firma am Abend wieder verließ, war es wieder dunkel. Ich ahne, dass Hamburg eine sehr dunkle Angelegenheit wird.

Nach Feierabend mietete ich mir einen E-Roller und fuhr 3km zu Mediamarkt, um mir einen Adapter für meine Tastatur zu besorgen. Die Kassiererin fragte mich nach meiner Postleitzahl. Ich sagte: „Oh, ich bin heute erst nach Hamburg gezogen. Ich weiß gar nicht, wie meine Postleitzahl lautet.“ Die Kassiererin war sichtlich erfreut darüber, dass ich in ihre Stadt gezogen war. „Wie schön!“ sagte sie. Die Postleitzahl sei ja gar nicht so wichtig. „Willkommen in Hamburg und hoffentlich haben Sie hier viel Spaß“, sagte sie und strahlte mich an.

Dann ging ich auch zu Kaufland, weil ich mir etwas zu essen besorgen musste. Die Gegend, in der sich die Firmenwohnung befindet, ist nicht sonderlich belebt. Die Wohnung hat eine kleine Gemeinschaftsküche. Die teile ich mir mit einem Inder, der heute auch den ersten Arbeitstag hatte. Wir unterhielten uns kurz im Hauseingang, fanden aber keinen Grund, uns näher kennenzulernen.

Hamburg ist so dunkel. Das hatte ich vergessen. Die Straßen in Hamburg sind nachts noch dunkler als in Berlin. Schon damals, als ich vor 23 Jahren von Madrid nach Hamburg zog, fiel mir vor allem die Dunkelheit in den Straßen auf. In Madrid sind die Straßen nachts gut ausgeleuchtet, die Nächte wirken freundlich. Hamburg empfand ich als leicht bedrohlich. Das Gefühl von damals war wieder da. Berlin ist nachts auch dunkel. Hamburg aber noch wesentlich mehr.

Icch muss mich nocch organisieren. Wann, wo und wie esse ich zu Abend? Wie mache ich das mit Frühstück? Auch muss ich mich mit den zwei Hausständen noch eingrooven. Die Tastatur, die ich mitgenommen habe, maccht aus jedem „c“ ein „cc“ oder haut sie irgendwo rein, wo sie nicht passen. Für die letzten Sätze habe ich den Fehler mal drin gelassen, damit man sieht, wie besccheuert sich die Tastatur verhält. Hätte ich doch meine geliebte Royal Kludge aus Berlin mitgenommen. Zur Sicherheit hatte ich noch eine weitere Notfalltastatur eingesteckt, falls ich auf dieser PureWriter nicht tippen mag. Ich war nur zu faul, sie auszupacken, das werde ich aber noch tun, da mich dieser Bug mit den cc’s total nervt. Aber die Notfalltastatur war wirklich nur ein Notfall und ist die Ersatztastatur einer Ersatztastatur einer Ersatztastatur.

Stolz bin ich hingegen darauf, dass ich an eine zweite Waage gedacht habe. Um mein Gewicht weiterhin zu protokollieren, bestellte ich einfach wieder meine alte Waage. Jetzt habe ich zwei identische Waagen. Eine für jede Stadt. Dummerweise zeigt die neue Waage 400g weniger an als die alte. Ich wusste, dass Personenwaagen eigentlich keine richtigen Waagen sind. Diesen großen Unterschied zwischen zwei identischen Modellen hätte ich allerdings nicht erwartet.

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[Sa, 1.11.2025 – Jesus]

Mit Menschen, die in Ostdeutschland groß geworden sind, kann man nicht über Jesus reden. Sage ich jetzt mal so. Dabei bin ich selbst Atheist. Das funktionierte schon gestern Abend nicht und auch nicht heute mit jeweils zwei unterschiedlichen Personen. Während ich die ganze Zeit versuchte, auf die historische Person Jesus und seine Bewegung einzugehen, sahen meine beiden Gesprächspartnerinnen immer nur: Priester, Kinderschänder, Machtausübung, Reichtum. Das ist natürlich auch eine Realität, hat aber nur wenig mit diesem Wanderprediger aus Galiläa zu tun, der den Armen half und sagte, man solle seinen Nächsten wie sich selber lieben.

„Ja, aber –“

Das waren unfassbar anstrengende Gespräche. Dabei war es mir wichtig, zu verstehen, wie soziale Bewegungen größer und bedeutender werden und irgendwann zu einer Macht werden und ab wann sie korrumpierbar werden und wann sie dann von irgendetwas Neuem ersetzt werden. Nun wurde unsere monotheistische Religion in Europa nie ersetzt, es gab jedoch Kriege wegen der Ausrichtung der Kirche. Ersetzt wurde das Christentum wiederum in vielen heutigen muslimischen Ländern. Mohammed war ja auch ein Rebell. Das ist mir alles wichtig zu verstehen. Wie die Dinge entstehen, wie sie kommen und gehen. Die Bedeutung der Kirche heute interessiert mich dabei weniger. Meine Gesprächspartner sahen aber immer nur: Priester, Kinderschänder, Machtausübung, Reichtum.

Allerdings kommt meine Dogwalkerin auch aus Ostdeutschland. Die ist hingegen Jesus-Fan geworden. Neulich hat sie einen „I love Jesus“-Sticker auf ihr Auto geklebt. Weil mich das überraschte, fragte ich nach. Sie sei nie gläubig gewesen, sagte sie, aber jetzt hatte sie sich ein wenig mit Jesus beschäftigt und festgestellt, dass das ein richtig cooler Typ war. Wie sie das sagte. Als säße Jesus bei Lagerfeuerpartys mit seinen Jüngern vorm Feuer und spielte auf seiner Gitarre. Aber ich verstand schon, was sie meinte. Auferstehung, Wunder, hin oder her, die Diskussion ist ja eh Käse und kann nicht rational geführt werden. Erstmal muss festgehalten werden, dass Jesus vor allem ein charismatischer Rädelsführer war, der sich für die Ausgestoßenen einsetzte und sich gegen die Konventionen stellte. Den Teil finde ich ungemein spannend. Hätte es damals die Wissenschaft schon gegeben, wäre er vielleicht Sozialpolitiker geworden.

Weil ich relativ wenige Details über die frühe Christensekte wusste, öffnete ich zuhause dutzende Tabs mit Jesusdokus. Nach ein paar Stunden war ich längst abgedriftet und bei der Bronzezeit im Jahr 1177 v Chr. gelandet, weil mich das Ende der Zivilisation in der Bronzezeit plötzlich mehr interessierte. Irgendwann war es spät und ich müde. Morgen ist mein letzter Tag in Berlin. Am Sonntagabend fahre ich nach Hamburg, quartiere mich erstmal in der Firmenwohnung ein und beginne einen neuen Abschnitt.

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[Fr, 31.10.2025 – Einsame Männer, Figl]

Am Abend mit Benny im Zosch verabredet gewesen. Wegen der Übergabe meiner Dauerkarte, da ich ab Montag die meiste Zeit in Hamburg verbringen werde und deswegen auf absehbare Zeit keine Heimspiele mehr besuchen werde. Höchstens in Ausnahmefällen. Er wird meine Karte verwahren und für seine Freunde nutzen.

Wir redeten über das Vereinsamen im Alter. Beide unsere Väter sind einsame Männer geworden und wir beide haben überhaupt keine Lust darauf, wie die zu enden. Wir meinen zu wissen, warum unsere Väter vereinsamt sind, und das liegt vor allem daran, dass sie sich nie wirklich für uns oder für jemanden interessierten. Väter machten ihr Ding, verhielten sich eher wie ein Familienoberhaupt und gefielen sich in dieser Rolle des Patriarchen. So gingen unsere Väter aber auch mit anderen um. Sie sind Familienhäuptlinge und treffen sich mit anderen Familienhäuptlingen. Oder sie brauchen Publikum. Ich war noch nie gutes Publikum. Zumindest nicht für selbstverliebte Männer. Sie haben nie gelernt, bedeutungsvolle Beziehungen aufzubauen. Aber jetzt im Alter ist das eben die Quittung. Vielleicht ist das auch die universelle Quittung für narzisstische Menschen. Im Laufe des Lebens lernt man, die Masche der Narzissten zu durchschauen, und wendet sich schließlich ab.

Zur Entlastung meines Vaters muss ich sagen, dass es mich nie störte, dass er sich nicht für mich interessierte. Ich fand es ganz gut, dass er mich ziemlich in Ruhe ließ und immer unterwegs war.

Ich habe aber keine negativen Gefühle. Ich sage das nur, weil ich nicht so enden möchte.

Negative Gefühle bekomme ich aber oft, wenn ich ins Gasthaus Figl in der Urbanstraße gehe. Heute war das wieder so. Anfangs versuchte ich, herauszufinden, ob es daran lag, dass ich tagsüber 4 Stunden lang mit meinem Hundefreund E und unseren Tieren am Werbellinsee war, oder ob es wirklich am Figl lag. Mich ärgert an dem Restaurant, dass sie auf Südtiroler Küche machen, es in Wirklichkeit aber gar nicht von Südtirolern betrieben wird. Deswegen betrete ich das Lokal immer mit einem inneren Händeverschränken. Allerdings fand ich auch heraus, dass sie die Südtiroler Referenzen auf der Webseite gestrichen haben. Das stimmte mich milde. Da werde ich ganz kindisch. Dennoch war ich von einer unterschwellig schlechten Laune heimgesucht, von der ich nicht so recht wusste, wo sie herkommt. Dann bestellte ich zum Bier eine Flasche Sprudelwasser. Das war eine völlig spontane und unüberlegte Handlung. Als ich von dem Wasser trank, ging es mir sofort besser.

[Mi, 29.10.2025 – Strukturen, Amanda Knox]

Aufgrund von logistischen Problemen brachte ich meine Frau mit dem Auto zum Flughafen. Ich fahre nicht gerne im Berufsverkehr mit dem Auto durch die Stadt, allerdings freute ich mich darauf, das erste Mal den neuen Autobahnabschnitt der A100 zu befahren. Ich freue mich schon seit langem darauf. Es ist mein Zugang zur Autobahn, wenn ich nach Süden oder Westen muss. Potsdam, Westdeutschland, Flughafen, Südtirol. Endlich muss ich nicht mehr durch die engen Wohnstraßen Treptows fahren. Oder schlimmer noch: durch die Stadt, Alex, Potsdamer Platz, Schöneberg. Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen an der Köpenicker Landstraße und am Baumschulenweg jetzt alle ein bisschen glücklicher geworden sind. Ich freue mich auch darauf, wenn die A100 weitergebaut wird. Auch wenn ich eher überzeugter Radfahrer bin und es mich aufregt, dass die CDU alle Radwegprojekte ausbremst. Aber die A100 finde ich gut. Ich finde auch fast alle anderen Infrastrukturprojekte gut: Windräder, Hochhäuser am Alex, die Hochhäuser an der Warschauer, Hochhäuser überhaupt, schöne Gebäude, Gebäude, die kontrovers sind, die Skulpturalität der Stadt, Identität auch. Ich war nie strukturkonservativ und natürlich nie wertekonservativ. Es heißt ja immer, man kann nicht beides sein. Ich schon. Ich war immer liberal, nie konservativ, und je älter ich werde, desto liberaler werde ich, während um mich herum alle zunehmend konservativer werden.

Mein Lektor Klaus hat übrigens Amanda Knox für den ND interviewt. Ihm erging es wie mir. Wir denken immer noch, dass Amanda Knox eine Sexmörderin war. Der Engel mit den Eisaugen, remember. Wie sich die Welt an dieser Geschichte der eiskalten Mörderin im Sexrausch aufgeilte. Letztes Jahr im Frühjahr, hörten meine Frau und ich beim Renovieren den deutschsprachigen Podcast „Judging Amanda Knox“, eine sechsteilige Reportage über die Rolle der Medien im Fall Amanda Knox. Auch wir waren der Annahme, dass sie schuldig war, aber irgendwie ihren Hals aus dem Strick gezogen hatte und in die USA geflüchtet war. Das Gegenteil ist der Fall. Der wahre Mörder (ein völlig anderer Mann aus einem ganz anderen Kontext) ist längst gefunden und war auch bereits während der Ermittlungen stark belastet und offensichtlich der Mörder. Aber alle stürzten sich auf Amanda Knox. Wofür sie für vier Jahre in den Knast kam. Erwähnenswert ist dabei auch, dass sich niemand für den männlichen Mitmörder, ihren damaligen italienischen Freund, interessierte, sondern alle den schönen Engel mit den Eisaugen schuldig wissen wollten. Ein unfassbarer Skandal.

Klaus hatte ein YouTube-Video darüber gesehen und war schockiert. Weil auch er noch einer anderen Annahme war. Also rief er sie an. Finde ich cool.

[Di, 28.10.2025 – Paket, Feedback]

Mit etwas Verspätung kam heute das Paket meiner Mutter an. Sie hatte mir Reisepass und Führerschein per Post nachgesendet. Die italienische Post dauert immer unfassbar lange. Von Italien aus, aber auch nach Italien hinein. Postkarten brauchen meist mehr als einen Monat. Die Reise dieses Briefes dauerte 8 Tage. Mittlerweile wurde mir bereits etwas mulmig zumute. Es wäre nicht das erste Paket aus Italien, das verschollen gegangen wäre. Ginge aber diese Sendung verloren, stünde ich ohne Pass und Führerschein ziemlich blöd da. Ich könnte mich nicht mehr ausweisen. Deswegen telefonierte ich heute gegen Mittag mit der italienischen Botschaft. Ich wollte wissen, wie ich einen neuen Reisepass beantragen kann, wenn ich mich nicht mehr ausweisen kann. Dem Herrn am Telefon gingen dabei ziemlich schnell die Ideen aus. Deswegen wollte der mich direkt an das ufficio passaporti weiterverbinden, da nahm aber niemand ab, vermutlich wegen der Mittagspause, wie er sagte. Also gab er mir die Durchwahl, ich solle es später am Nachmittag versuchen.

In der Zwischenzeit kam aber das Paket.

Auch so eine Sache: Auf dem Rückweg von der Runde mit der Hündin traf ich zwei junge Männer mit ihren Postfahrrädern in meiner Straße. Ich hielt sie gleich an und fragte, ob sie in meinem Haus die Post bereits verteilt hätten. Sie bejahten es. Dann fragte ich, ob es ein Paket für „Pfeifer“ gegeben hätte. Daraufhin sagte einer der beiden, sichtlich erfreut: „Ja!“ Er sagte, es gäbe ein Paket aus Meran.

Ich sagte: „Ja! Meran!“

Er erzählte mir, dass es ihn heute früh sehr gefreut hatte, als er das Paket in seinem Korb sah. Er käme nämlich aus der Gegend von Meran.

Ich sagte: „Wie schön, da komme ich auch her!“

Er sagte: „Echt? Woher denn?“

Ich so: (erklärte, dass ich bin in Bozen geboren, aber im Gadertal aufgewachsen bin und meine Familie jetzt in Meran lebt.)

Er so: (erklärte, dass er aus Bozen kommt und seine Mutter noch da wohnt.)

Er zog das kleine Paket aus seiner Box und wir unterhielten uns noch eine Weile. Ich fragte ihn, ob er wusste, dass die neue Chefin der Bahn eine Südtirolerin ist. Er wusste es auch nicht. Mich beruhigte das. Ich schrieb meiner Frau vom Bozner Postboten.

Sie sagte: „Uh, das kannst du sicherlich verbloggen.“

Ich sagte: „Nah, das ist eher unlustig und es wirkt konstruiert.“

Und sie so: „Ja vielleicht.“

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Neulich am Innsbrucker Bahnhof hätte ich ja fast ein Buch von Ferdinand von Schirach gekauft. Nun suchte ich heute in meinen Bücherregalen nach den beiden kleinen Bänden von Hugleikur Dagsson. Bei der Suche stieß ich jedoch auf ein Buch namens „Verbrechen“ von besagtem von Schirach. Muss ich irgendwann vor vielen Jahren einmal gekauft und vergessen haben. Lese ich jetzt. Es ist ein sehr präzises Textstück. Mehrere verschiedene Kriminalgeschichten. Lakonisch im Stil, aber die Lakonie kommt als Stilmittel gar nicht so nach vorne, weil die Texte etwas Protokollarisches haben. Das ist eindringlich und gefällt mir sehr.

Später telefonierte ich mit Sonja Steger, der Organisatorin des Literaturfestivals in Meran. Sie hatte nach der Lesung letzte Woche keine Zeit mehr, mit mir zu sprechen, also schlug sie vor, dass wir noch einmal telefonieren, wenn ich wieder zurück in Berlin bin. Sie wollte hauptsächlich wissen, wie es mir gefallen hatte und ob ich mich wohl gefühlt hätte.

Ob ich mich wohl gefühlt hätte.

Das fand ich so unfassbar nett gefragt. Ich hatte mich nämlich sehr wohl gefühlt. Mir ist durchaus bewusst, dass sie als Veranstalterin wissen möchte, wie die Veranstaltung für mich als auftretenden Gast war. Es war also so etwas wie ein Feedbackgespräch. Ich fand es aber trotzdem ausgesprochen nett, weil es auf mich auch eher wirkte, als wäre das Projekt ohne dieses Gespräch noch nicht abgeschlossen. Einmal den Abend rekapitulieren, sich bewusst zusammentun und es abschließen. Das habe ich auch von Projekten gelernt. Ein Projekt sollte immer zeremoniell abgeschlossen werden. Entweder in einer Retrospektive, mit einer Pizza oder idealerweise mit einer Party. Auf Kulturveranstaltungen ist mir das bisher noch nie passiert. Glaube ich. Zumindest nicht bewusst.